Komplexe Fragen erfor­dern man­nig­fal­ti­ge Antworten. Jodi Picoult erschafft in ihren Werken durch die Perspektivenvielfalt ihrer Figuren einen Schauplatz gesell­schaftlichen Diskurses. Schnell wird klar: die eine Antwort auf ethi­sche Fragen gibt es nicht.

Die Bandbreite ethi­scher Diskursthemen in einem Roman ein­zu­fan­gen erscheint unmög­lich – die Schriftstellerin Jodi Picoult schafft es mit Bravour gleich in zahl­rei­chen ihrer Romane. Mit erzäh­le­ri­scher Raffinesse the­ma­ti­siert sie unfass­bar viel­schich­ti­ge mora­li­sche Grenzfälle aus unter­schied­li­chen Sichtwinkeln. Stupide Schwarz-weiß-Denker mögen ins Zweifeln gera­ten, Entzweigerissene Bestätigung füh­len. Zwar ist die Publikation der zwei Romane schon etwas her, doch Diskurse sind zeit­los. Moralische Grundsätze sind – kom­ple­xi­täts­ver­schul­det – immer wie­der in der Debatte, und das ist gut so, immer­hin bie­ten sie das ethi­sche Fundament unse­rer Gesellschaft.

Hört sich kom­plex an, liest sich aber ohne Anstrengung weg

Das Lesen der Bücher fühlt sich an wie ein lau­er Sommerabend mit dem bes­ten Freund am See, rechts ein Bier und links der rau­chen­de Diskussionsjibbit. Das Reden über kom­ple­xe Themen mit einem kon­stan­ten Erkenntnishigh ohne ner­vi­ge Denkstrapazen. Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelten des 17-jäh­ri­gen Amokläufers oder des gen­mo­di­fi­zier­ten Kindes: in den Werken ver­setzt sich der Leser in alle Beteiligten eines ethi­schen Rechtsstreits.
Hört sich kom­plex an, liest sich aber nach einem lan­gen Tag mit Suchtpotenzial ohne Anstrengung weg, ver­spro­chen. So geis­tig anspruchs­los wie eine wohl­tu­en­de New-Adult-Schnulze ist es zwar nicht, aber nachhaltiger.

Beim Leben mei­ner Schwester
Originaltitel: My Sister’s Keeper
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
München: Piper Taschenbuch 2006
480 Seiten, 14,00 € (E‑Book 10,99 €)

Protagonistin des Buches ist die 13-jäh­ri­ge Anna Fitzgerald. Thematisch dreht sich die Handlung um den Zweck ihrer Geburt: Ihre Genetik ist der Garant für das Weiterleben der leuk­ämie­kran­ken älte­ren Schwester. Annas Funktion ist die eines allo­ge­nen Spenderlieferanten: Ob Leukozyten, Stammzellen, Knochenmark oder Niere. Im Körper ihrer Schwester Kate schlum­mert eine Krankheit, die eine Sterbewahrscheinlichkeit von 20 bis 30 Prozent mit sich bringt. Welche von unab­ding­ba­rer Mutterliebe getrie­be­ne Frau wür­de sich nicht einen eigens dazu gen­mo­di­fi­zier­ten Fötus ein­set­zen lassen?

Die zwei­te Tochter soll Spendeorgane für die ers­te liefern

Doch wie weit sind Eltern dazu befugt, den Körper der zwei­ten Tochter zur Rettung ihres ers­ten Kindes zu nut­zen? Und wie schlägt sich dies psy­chisch auf den ältes­ten Sohn, Jesse Fitzgerald, nie­der? Das Buch beglei­tet die Familie wäh­rend eines emo­tio­na­len Rechtsstreits, ange­zet­telt von Anna, die im zar­ten Jugendalter für das Recht zur Selbstbestimmung ihres Körpers mit einem Jugend-Rechtsanwalt und einer Verfahrenspflegerin vor Gericht zieht. Im Laufe des Plots zeigt sich die pri­va­te Zerrissenheit einer Familie in all ihren Facetten. Die gan­ze Geschichte ist damit nicht erzählt: unge­klär­te Fragen hal­ten die Spannung des Textes bis zur letz­ten Seite auf­recht und – ohne vor­grei­fen zu wol­len – der Plottwist zum Ende hin bringt eini­ges an Erkenntnispotenzial mit sich.


Auch die Romantiker unter den Lesern wer­den befrie­digt, fin­den doch im Laufe der Geschichte zwei Paare zuein­an­der … Ein Ausgang der Liebe wird eini­ge von Euch dabei in gro­ße Freude, ande­re in herz­zer­rei­ßen­de Trauer ver­set­zen, aber lest selbst!

Neunzehn Minuten
Originaltitel: Nineteen Minutes
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
München: Piper Taschenbuch 2009
480 Seiten, 12,00 € (E‑Book 9,99 €)

Laut des Autorenverbandes Pen America, wel­cher sich zur Aufgabe gemacht hat, Buchzensuren in den USA auf­zu­de­cken und zu doku­men­tie­ren, gehört das Werk 2024 zu den am häu­figs­ten ver­bo­te­nen Titeln. PoC-Autoren, LGBTQ- Schriftsteller, Rassismus, Sexualität, Gender, Geschichte … Zwar ste­hen dabei eher Werke von sehr aktu­el­len Diskursthemen im Sinne von auf­klä­re­ri­schen Strömungen in der Schusslinie, doch Jodis Buch schaff­te es trotz­dem den ideo­lo­gi­schen Ansichten man­cher Behörden, Gesetzgebern und Eltern auf die Füße zu tre­ten. Gerade das lässt auf die Relevanz des Werkes schlie­ßen, wel­che es lesens­wert macht.

2024 ein häu­fig ver­bo­te­nes Buch

Was kann in einer Zeit von läp­pi­schen neun­zehn Minuten schon pas­sie­ren? Wie groß die Macht die­ser Zeitspanne sein kann, wird im gleich­na­mi­gen Buch Picoults klar.
Auch hier ist die Handlung ein­ge­bet­tet in den Kontext eines Rechtsstreits. Die zahl­rei­chen erzäh­le­ri­schen Perspektiven las­sen auch die­sen Roman mit­nich­ten über­la­den wir­ken, son­dern ermög­li­chen ein umfas­sen­des Eintauchen in die jeweils per­sön­li­chen his­to­ri­schen Geschichten und Beweggründe der Figuren. Statt der geziel­ten Täterdiffamierung, wel­che die Frage nach dem Warum der Einfachheit und emo­tio­na­ler Abschirmung hal­ber nur ober­fläch­lich beant­wor­tet, muss man als Leser – nicht ohne eini­gen Schrecken – ein gewis­ses Nachempfinden der Beweggründe des 17-jäh­ri­gen Amokläufers Peter Houghton bemer­ken. Die mit dem Text ein­her­ge­hen­de Einfühlungskraft ermög­licht es, ihm ein Gefühl der Sympathie ent­ge­gen­zu­brin­gen; das ist der Moment, an dem eine leser­ei­ge­ne Skepsis und Reflexion statt Zensur ein­set­zen soll­te. Doch im sel­ben Maße, wie man die Beweggründe Peters ver­steht, ermög­licht der Text einen Zugang zu der Gefühlswelt wei­te­rer Betroffener an der Tat: die Zerrissenheit und der Unglaube sei­ner Mutter, wel­che gefan­gen ist zwi­schen Liebe und Abscheu, Peters Strafverteidiger und Anwalt sowie die Richterin des Falles, deren per­sön­li­cher Bezug zum Amokläufer spä­ter zum Problem wer­den soll, wer­den zu Berichterstattern ihrer emo­tio­na­len Anteilnahme wäh­rend des Falles. Gruselige Genauigkeit ent­hal­ten die Erzählungen in den Kapiteln eben­je­nes Polizisten und Ermittlers, der für die Festnahme des Täters ver­ant­wort­lich ist. Viele Kapitel wid­men sich der Erzählperspektive einer Schülerin der Sterling Highschool, deren Verbindung zu Peter zunächst nicht ganz greif­bar erscheint.

Sympathie mit dem Amokläufer

Auch in die­sem Werk Picoults hält sich der Spannungsbogen bis zuletzt, erschlie­ßen sich dem Leser doch erst auf den letz­ten Seiten die Zusammenhänge der diver­sen Figurenerzählungen. Ein Buch, das vie­le Themen und Motive beinhal­tet: Liebe, Mobbing, Betroffenheit, Einsamkeit und Traumata, ein­ge­bet­tet in ein Spinnennetz an Vorkommnissen, die einen ver­zwei­fel­ten Jugendlichen zur Waffe grei­fen lassen.

Text: Anastasia Fiedler

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