In etli­chen deut­schen Städten begeg­net einem das Phänomen der Hausbesetzungen; so auch in Halle. Das Wissen um die Hintergründe dazu ist hin­ge­gen weni­ger weit ver­brei­tet. Einen ers­ten Eindruck dazu, was es mit besetz­ten Gebäuden auf sich hat und wie sie orga­ni­siert sind, bie­tet ein Blick in die Reilstraße 78.

Illustration: Elena Kost

Bei der Ankunft herrscht im Treppenhaus schon reges Treiben. Der Weg nach oben führt an Graffiti und alten Postern vor­bei in den nicht weni­ger bunt gestal­te­ten ers­ten Stock. Oben tum­meln sich wei­te­re Partygäste, an einer klei­nen Bar wer­den Getränke ausge­geben, und im Nebenzimmer gibt eine Punkrockband ihr Können zum Besten. Anlass der Feier in der Reilstraße 78 ist der Abschluss der „Kritischen Einführungswoche“ der MLU. An ande­ren Abenden ste­hen hier auch Poetry-Slammer auf der Bühne, regel­mä­ßig tref­fen sich Gruppen, um zusam­men Sport zu trei­ben, oder es wer­den im selbst ein­ge­rich­te­ten „Kinosaal“ Filme mit meist anti­fa­schis­ti­scher Botschaft gezeigt. Zum Wochenabschluss kocht jeden Sonntag eine wech­seln­de Gruppe Freiwilliger bei der „Küfa“ (Küche für alle) ein vega­nes Abendessen. Die Preise auf der Getränkekarte sind ver­gleichs­wei­se güns­tig, für kei­nen der meist pro­fes­sio­nell gelei­te­ten Kurse wird eine Gebühr ver­langt, und neben der Essensausgabe steht ledig­lich eine Spendenkasse – das kommt gut an, aber wo genau ist man hier gelandet?

Eine weitreichende Geschichte

Seit etli­chen Jahren ver­geht kaum ein Tag, an dem in der Reilstraße 78, auch ein­fach „das Reil“ genannt, nichts gebo­ten wird. Für die meis­ten Anwesenden ist es dar­um nur schwer vor­stell­bar, dass das Gebäude ein­mal voll­kom­men leer gestan­den haben und vom Verfall bedroht gewe­sen sein soll.

Nach der Nutzung des Hauses als Kinderheim küm­mer­te sich vier Jahre lang nie­mand mehr um sei­ne Instandhaltung oder mög­li­che Folgemieter, bis sich im Juni 2001 eine Gruppe unter der Bezeichnung „Initiative Reilstraße“ der Sache annahm. Soll hei­ßen, sie ver­schaff­te sich Zutritt, erklär­te den Ort für „besetzt“ und orga­ni­sier­te dort eine Woche lang Partys sowie öffent­li­che Diskussionsrunden. Ziel und Zweck der Aktion war die Übernahme der Reilstraße 78 und deren Umgestaltung zu etwas Neuem, das der gesam­ten Gesellschaft zugu­te­kom­men soll­te. Ihre Vision: Der Aufbau eines „sub­kul­tu­rel­len, sozia­len Treffpunkts“ als Alternative zu Einrichtungen mit staat­lich fest­ge­schrie­be­nen Bildungsinhalten. Die Schaffung eines „selbst­ver­wal­te­ten Freiraums“, in dem Ideen auf­ein­an­der­tref­fen und Projekte umge­setzt wer­den kön­nen. Wo sowohl dis­ku­tiert als auch gefei­ert wer­den kann.

In Halle gibt es neben dem Reil noch den ver­gleich­bar orga­ni­sier­ten VL (Kellnerstraße e.V.) in der Ludwigstraße 37. Eine wei­te­re Besetzung der Hafenstraße 7 (Hasi) sorg­te in der Stadt für eini­ge Furore; die lan­ge Verhandlung zwi­schen Eigentümerin und Besetzern hat­te teils in hef­ti­gen Auseinandersetzungen und sogar einem groß ange­leg­ten Polizeieinsatz gegipfelt.

Die Hausbesetzung ist ein seit Jahrzehnten welt­weit fest­ste­hen­der Begriff und immer wie­der ver­wen­de­tes Protestmittel. In Deutschland ereig­ne­ten sich die ers­ten sol­cher Fälle Anfang der 70er Jahre im Zuge der 68er-Revolution. Vor allem jun­ge Erwachsene der soge­nann­ten „Neuen Linken“ began­nen sich in die­ser Zeit ver­stärkt poli­tisch zu enga­gie­ren und gegen den anhal­ten­den Stillstand in der Regierung zu pro­tes­tie­ren. Frustration und Kritik rief bei ihnen unter ande­rem die fort­wäh­ren­de Zwangsentmietung gan­zer Wohnviertel her­vor. Umso mehr, da in vie­len Städten eine enor­me Wohnungsnot vor­herrsch­te. Versprochen wur­den dabei bei­spiels­wei­se ein Abriss der Plattenbaulandschaft und die Schaffung moder­ner Wohnkomplexe. Zum Neubau kam es dabei jedoch sel­ten, und so verwahrlos­ten die Häuser infol­ge des Leerstands.

Heute wie damals war­fen die Besetzergruppen den Eigentümern vor, ihre Immobilien als „Spekulationsgut“ zu miss­brau­chen, den Markt ver­knap­pen zu wol­len, um Mieten in die Höhe trei­ben oder irgend­wann doch luxus­sa­nie­ren zu kön­nen. Um dem ent­ge­gen­zu­wir­ken, schlos­sen sie sich in den ver­wais­ten Bauten ein, ver­an­stal­te­ten dort Partys und mach­ten mit Bannern und Graffiti ihre Forderungen deut­lich. „Wohnraum statt Profite“ oder „Unsere Träume brau­chen Räume“ waren dabei nur eini­ge der gän­gi­gen Parolen. Drohten Behörden mit der Zwangsräumung, wur­den kur­zer­hand Barrikaden errich­tet oder die Fenster zugemauert.

Vereinzelt befan­den sich unter den frü­hen Besetzergruppen auch Steinewerfer, die auf staat­li­che Maßnahmen mit Gegengewalt reagier­ten. Zwischenzeitlich hät­ten sich die „Kampfformen aller­dings geän­dert“, wie es Barbara Sichtermann, Autorin des Buches „Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung“, gegen­über dem „Transit Magazin“ im Mai 2018 for­mu­lier­te. Heute äuße­re sich der Widerstand in „krea­ti­ven Aktionsformen und Festen“.

Eine auf www.reil78.de ver­öf­fent­lich­te Selbstbeschreibung macht deut­lich, dass so­ziales Miteinander, poli­ti­scher Diskurs und die Schaffung eines auto­no­men Freizeitangebots im Mittelpunkt des

Projekts ste­hen. Bei der Diskussion um Besetzungsaktionen wür­de die „enor­me ehren­amt­li­che Leistung der Initiatoren“ oft „unter den Tisch fal­len“, so Sichtermann.

Illustration: Elena Kost

Abgesehen von den his­to­risch begrün­de­ten Vorurteilen hat­ten und haben Hausbesetzer noch immer mit der Anschuldigung des „Linksextremismus“ zu kämp­fen. Im Fall der hal­li­schen Projekte kom­men die­se vor allem aus den Reihen der rech­ten Identitären Bewegung. Dabei haben sich die Basis von VL und Reil ganz deut­lich die Nulltoleranz gegen­über Rassismus und jeg­li­cher Gewalt auf die Fahne geschrie­ben und trenn­ten sich über die Jahre auch immer wie­der von Gruppen und Personen, deren Einstellungen ins Radikale abdrifteten.

Über einen sol­chen Schritt wird, so wie über alles ande­re auch, in einem Plenum dis­ku­tiert und abge­stimmt. „Bei uns soll es kei­ne Hierarchie geben“, so das offi­zi­el­le Statement des VL. „Möchte jemand den Chef spre­chen, wird er Schwierigkeiten haben“. Natürlich ist die­ses Konzept der „Basisdemokratie“ häu­fig nur schwer umsetz­bar. Beispielsweise bei fun­da­men­ta­len Fragen wie der zur Legalisierung der Hausprojekte wäre es sehr schwer gewe­sen, auf einen gemein­sa­men Konsens zu kommen.

Zwischen Wider- und Fortbestand

Viele Besatzungsprojekte schei­tern nach einer Weile dar­an, dass es Behörden und Besetzern schwer­fällt zu koope­rie­ren und gemein­sam nach Lösungen zu suchen. Auch in Halle waren sich Politiker und Stadtverwaltung zunächst uneins, wie sie sich zum Phänomen Hausbesetzung posi­tio­nie­ren soll­ten. Ist ein sol­ches Vorgehen unter demo­kra­ti­schen Gesichtspunkten tole­rier­bar? Die Besetzer wie­der­um frag­ten sich, ob man durch eine Kooperation mit Behörden den beab­sich­tig­ten zivi­len Ungehorsam auf­gä­be und sich dem dem kom­mer­zi­el­len System unter­ord­ne­te. Man ent­schied sich letzt­end­lich für eine ver­trag­li­che Einigung, im Zuge derer auf dem Papier aus Besetzern ange­mel­de­te Vereinsmitglieder wurden.

Letztere sind sich im Klaren dar­über, dass die Projekte durch die Nutzerverträge und Vereinsanmeldungen offi­zi­ell nun nichts mehr mit dem Zustand eines der besetz­ten Häuser zu tun haben. Weder ihren Überzeugungen noch dem sozia­len Miteinander hat dies jedoch einen Abbruch getan. Gesellt man sich am Sonntagabend bei einer damp­fen­den Schüssel vega­ner Soljanka zu den umste­hen­den Gruppen, wird im Gespräch schnell klar, dass die meis­ten regel­mä­ßig her­kom­men und jedes neue Hausprojekt in der Stadt begrü­ßen wür­den. Auch Barbara Sichtermann ist der Meinung: „Freiräume zu erhal­ten und Kulturzentren zu schaf­fen ist die Aufgabe jeder neu­en Generation.“

Kritik einer Lese- und Diskussionsveranstaltung mit Barbara Sichtermann und OB Bernd Wiegand: https://transit-magazin.de/2018/05/bekommt-halle-ein-freiraum-konzept/

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