Meine Reisen mit der Bahn glei­chen immer einer Odyssee, ohne Zwischenhalt, nach Absurdistan. Von genau solch einer Irrfahrt soll im Folgenden berich­tet werden. 

Es ist Sommer, die Ferienzeit beginnt und uns zieht es zu den Bahnhöfen und den dor­ti­gen Zügen wie Motten ins Licht. Wir wol­len alle, ohne Zwischenfälle, in ICE-Spitzengeschwindigkeit zur Urlaubsentspannung düsen. Doch eini­gen Unglücklichen bleibt dies nicht ver­gönnt – und ich bin eine von die­sen chro­nisch vom Pech ver­folg­ten in der Holzklasse Reisenden. Ich ste­he dicht an dicht gepfercht in den lang­sams­ten Zügen, wenn sie sich denn über­haupt ein­mal bewe­gen, und schaue dabei zu, wie das Deo mei­ner Mitreisenden lang­sam den Kampf gegen die aus­ge­fal­le­ne Klimaanlage ver­liert. Ich habe stän­dig genau so viel oder wenig Verspätung, dass man nichts zurück­er­stat­tet bekommt. Mit mir rei­sen immer min­des­tens 15 schrei­en­de Babys und Kleinkinder, zwei schla­ger­lie­ben­de Jungesell:innenabschiede und eine grö­len­de Schulklasse auf Abschlussfahrt. 

Meine Reise beginnt mit einem 100-Meter-Sprint an Gleis acht. Dort steht mei­ne Bahn schon bereit und ich kann bereits von Weitem erken­nen, dass ich, eine Viertelstunde vor Abfahrt, trotz­dem zu spät für einen Sitzplatz ange­kom­men bin. Während ich mich also dem Zug nähe­re, begin­ne ich schon zu ban­gen, ob ich über­haupt noch einen Stehplatz ergat­tern könn­te. Diesen gibt es glück­li­cher­wei­se, und zwar direkt vor der obli­ga­to­risch defek­ten Tür (in Fahrtrichtung links), der zu mei­nem Leidwesen als Sparfuchs natür­lich genau das glei­che kos­tet wie einer der begehr­ten Sitzplätze.  
Neben mir ste­hen schon zwei ande­re Frauen cir­ca Mitte zwan­zig aus Leipzig. Und der Zug soll­te immer vol­ler und vol­ler wer­den. In der Zwischenzeit wer­den schon Witze vom Typ: “Immerhin kön­nen wir nicht umfal­len” geris­sen und ich fan­ge an, Sardinen in Öl für ihre geräu­mi­ge Dose zu benei­den. Leider ist es genau­so und bei der Abfahrt sogar noch schlim­mer, als man sich das jetzt even­tu­ell vor­stel­len mag. Aber der für die Situation viel zu gut gelaun­te Mann hat Recht, nicht ein­mal mehr der Domino-Effekt hät­te funktioniert. 

Es wird natür­lich auch immer hei­ßer und ich habe es end­lich in einem güns­ti­gen Moment der mini­mals­ten Bewegungsfreiheit geschafft, mei­nen Mantel aus­zu­zie­hen. Aus der kaput­ten Tür kann ich auch nur in den ers­ten Minuten die Landschaft als Ablenkung genie­ßen, dann beschlägt das Glas. Doch die Fahrt durch die Hölle der Aussichtslosigkeit hat gera­de erst begonnen. 

Langsam formt sich aus der Gruppe der Stehenden eine Gemeinschaft. Bis wir uns so eng drän­gen, dass wir eini­ge Mitreisende am Bahnsteig zurück­las­sen müssen. 

Ich habe immer­hin noch Glück. Ich ste­he am Rand in einer Ecke an der Tür und kann mich in güns­ti­gen Momenten kurz anleh­nen. Die bei­den Mittzwanzigerinnen neben mir sit­zen auf ihren Rucksäcken, reden übers Kiffen in WG-Küchen und hal­ten ihre Hände fest auf eine kom­plett mit Klebeband ein­ge­wi­ckel­te Kleintiertransportbox, etwa von der Größe eines Bierkastens. 

Ich grüb­le, was man auf die­se Art und Weise wohl trans­por­tie­ren wür­de. Hier eine Auswahl mei­ner Ideen: den Heiligen Gral (auf­fäl­lig unauf­fäl­lig), Drogen, eine Spinne oder ähn­lich krab­beln­des Getier, das sonst durch die Luftlöcher flüch­ten könn­te, eine wei­te­re, etwas klei­ne­re Kleintiertransportbox gefolgt von einer wei­te­ren, etwas klei­ne­ren Kleintiertransportbox gefolgt von einer wei­te­ren noch etwas klei­ne­ren Kleintiertransportbox gefolgt von… (ich mer­ke schon, ich ver­ren­ne mich hier ein wenig) oder viel­leicht ist das ein neu­er modi­scher Trend, von Influencer:innen mit mil­lio­nen­fa­cher Anhänger:innenschaft popularisiert. 

Während ich so ange­strengt sin­nie­re, muss ich wohl etwas zu sehr gestarrt haben, denn die bei­den Besitzerinnen der rät­sel­haf­ten Kiste star­ren zurück. Unsere fra­gen­den Blicke kreu­zen sich. Wir füh­len uns alle drei irgend­wie ertappt. Wir wis­sen nichts mit die­ser Situation anzu­fan­gen, bis eine von ihnen zu reden beginnt und das Rätsel um den sagen­um­wo­ben Kisteninhalt lüf­tet. 
 
In ihrem Inneren befin­det sich Ingo. Ingo ist 14 Jahre alt. Naja, Ingo wur­de 14 Jahre alt. Denn Ingo ist der tote WG-Kater der zwei. Eine der bei­den hat­te ihn von zuhau­se mit in die WG gebracht. Dort leb­te er für unge­fähr vier Jahre, bis ihn der Katzengott zu sich in den Katzenhimmel rief. 
Wieso die bei­den aber einen Katerkadaver mit in einen mehr als über­füll­ten Zug nah­men, wür­de ich zu ger­ne wis­sen. 
Sie erzäh­len mir von ihrer Mission, die die­sen Zugteil zu einem Leichenwagen macht. Ingo tritt gera­de sei­ne letz­te Reise an. Er soll an sei­nem Geburtsort, dem Bauernhof und Elternhaus einer von ihnen, irgend­wo im süd­lichs­ten Zipfel von Bayern, beer­digt wer­den. Die gan­ze Familie wird dabei sein. Es soll nicht um Ingo getrau­ert, son­dern sein Leben gefei­ert wer­den. 
Die Trauerfeier ist schon bis ins kleins­te Detail geplant. Alle wer­den Ingos Lieblingsfarbe, ein hel­les rosa, tra­gen. Ich weiß bis heu­te noch nicht, wor­an sie das erkannt haben. Aber Hauptsache kein schwarz. Es soll emo­tio­na­le Trauerreden geben und eine Diashow unter­malt von sei­nem Lieblingslied: „Who let the dogs out“. Auch hier bin ich mir unsi­cher, wie das ermit­telt wur­de. Aber mei­ne Gesprächspartnerinnen hat­ten schon Tränen in den Augen; da woll­te ich nicht noch tie­fer boh­ren. Ingo wird in einem klei­nen, höl­zer­nen Sarg, den ihr Opa gebaut hat, in die Erde, im Garten der Familie, hin­ab­ge­las­sen. Die Sargträger sind ihre bei­den Brüder, die sich extra zu die­sem Anlass eine ingo­ähn­li­che Frisur haben schnei­den las­sen. (Mir wur­den Bilder, von Ingo und den Brüdern gezeigt und ich muss sagen, sie hät­ten Drillinge sein kön­nen.) 
Zuvor soll der Sarg geöff­net wer­den, damit die gesam­te Trauergemeinde, wie es sich gehört, Abschied neh­men und ihren Ingo noch ein letz­tes Mal sehen kann. 

Sobald der Kater in das Erdloch des Familiengartens hin­un­ter­ge­las­sen wur­de, dür­fen alle, ähn­lich wie im alten Ägypten, Geschenke und eine Schaufel Katzenstreu (das nicht wie im alten Ägypten) mit hin­un­ter­wer­fen. Nachdem das Loch wie­der ver­schlos­sen ist und alle Tränen getrock­net sind, wird die Stelle mit einer in Stein gehaue­nen Skulptur Ingos in Überlebensgröße gekenn­zeich­net. Anschließend steht der Leichenschmaus auf dem Plan. Hierfür wer­den the­ma­tisch pas­sen­de Häppchen und Fingerfood gereicht. Ingos Lieblingsessen darf natür­lich auch nicht feh­len: Mett-Igel mit extra Zwiebel. Und an der Stelle an der Ingo immer so ger­ne in der Sonne gedöst hat­te wird noch ein Schrein zu sei­nen Ehren errichtet. 

Nach die­ser lan­gen und emo­tio­na­len Erzählung sind wir schon kurz vor Hof. Meinem Ziel und einem Zwischenstopp für Ingo und sei­ne Entourage. Ich ver­brach­te also drei bis vier Stunden neben Ingos leb­lo­sem Körper in einer zuge­tap­ten Transportbox, als es ans Aus‑, bezie­hungs­wei­se Umsteigen geht. 
Jetzt wer­de ich auch noch unge­wollt Teil des Leichentransportteams und darf Ingos Überreste über die Schwelle der Zugtür heben. Ich füh­le mich geehrt und den­ke: „Ingo und ich hät­ten uns sicher super ver­stan­den.“  
Beim Verabschieden wer­de ich gefragt, ob ich nicht doch Lust hät­te, mit zur Zeremonie zu kom­men, aber ich leh­ne dan­kend ab. So gut kann­te ich Ingo dann auch wie­der nicht. Außerdem habe ich nichts hellrosanes. 

Text und Illustrationen: Michelle Erhardt

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